Seite 87

Vors. Vogel: Herr Professor Bossle, wir wollen uns hier an das halten, was wir jetzt untereinander ausgemacht haben.

Prof. Bossle: Um dem Auftrag des Unterausschusses des Auswärtigen Ausschusses gerecht zu werden, ob sich nämlich deutsche Staatsangehörige unfreiwillig und unter menschenrechtsverletzenden Bedingungen in der Colonia Dignidad in Chile befinden, muß man das politische und vor allem publizistische Beiwerk erst einmal weglassen. Erst dann kann man die eigentliche Problematik dieser in den 60er Jahren in Chile entstandenen deutschen Siedlung erkennen. Schuldzuweisungen an die Regierung Chiles, an die deutsche Botschaft in Santiago de Chile oder das Auwärtige Amt dienen keineswegs dem Bemühen, die wirklichen Lebensbedingungen dieser fast 300 Staatsbürger in ihren zu untersuchenden menschenrechtsverletzenden Umständen erfassen zu können. Die Colonia Dignidad muß daher in eine vergleichende Betrachtung zur Entstehungshäufigkeit von ländlichen Siedlungsgemeinschaften seit dem Beginn der Industrialisierung und der europäischen Auswanderungen nach Nord- und Südamerika hineingestellt werden. Seitdem gibt es nämlich die Neigung von Menschen, den Kompliziertheiten der industriellen Gesellschaft und der Verstädterung zu entfliehen, indem man sich in lebensbündischer Gemeinschaft auf das Land zurückzieht. Es gehört gewiß zu den Tragödien der europäischen Geschichte, daß immer wieder Menschen Europa verlassen müssen, um in Amerika eine neue Heimat zu finden.

Nicht anders liegen die Gründe für die Entstehung der Colonia Dignidad. Ohne den Verlust ihrer Heimat, den viele als Folge des Zweiten Weltkriegs zu beklagen hatten, wäre sie nicht entstanden. Es entspricht freilich einer Neigung nach ungeregelten Verhältnissen in dieser Siedlung, daß ich bei meinen viermaligen Besuchen in der Colonia Dignidad keine Aufachlüsselung über die erste Heimat ihrer Mitglieder habe erhalten können. Nach Schätzungen, die aber unbestätigt sind, sind es etwa 15 Bewohner, die ihren Geburtsort im Hoheitsgebiet